Auf europäischer Ebene national gedacht – diese verquere Logik muss nicht sein!

von Colin Sam Stamm (Schatzmeister der Julis Olpe)

21. Juli 2020. Historischer Tag in Europa. Nach 4 Tage andauernden Verhandlungen haben die 27 EU-Staats- und Regierungschefs das geschafft, was kaum einer in der Union, der sich mit der Politik der Nationalstaaten befasst, für möglich gehalten hätte. Auch so ist alleine die Vorstellung, 27 Personen könnten sich auf ein gemeinsames Ziel einigen, schon beinahe abstrus. Doch genau das ist geschehen. Am Dienstag-Morgen um 5:13 Uhr war es soweit, nahezu 1,8 Billionen € im Rahmen wirtschaftlicher Hilfen und des sieben-jährigen europäischen Finanzrahmens wurden als Budget verabschiedet. Die zusätzlichen 750 Milliarden €, die zu dem Volumen von 1,074 Billionen € des regulären Finanzhaushaltes hinzukommen, sind der eigentliche Clue. Angestoßen von Ursula von der Leyen, europäische Kommissionschefin, und aufgenommen von Angela Merkel und Emmanuel Macron wurde seit ca. 2 Monaten über die Möglichkeiten beraten, wie man der EU und ihren durch die Corona-Pandemie besonders angeschlagenen Ländern wie Italien und Spanien aus der Krise mit negativem wirtschaftlichen Beigeschmack heraushelfen kann. Aus den angedachten 500 Milliarden Zuschüssen wurde zwar nichts, dennoch kommen nun 390 Milliarden € als Finanzhilfen bei den Ländern an, wofür die EU erstmals in ihrer Geschichte Schulden aufnimmt. Ein bis dahin unvorstellbarer Tabu-Bruch, stelle man sich vor, dass besonders aus der deutschen Politik kontinuierlich Widerstand gegenüber Vorschlägen wie einem europäischen Finanzminister, von französischer Seite ins Gespräch gebracht, kamen. Nicht unverständlicherweise bezeichnete Macron dies als ,,Historischen Schritt für Europa“, Giuseppe Conte sagte, es sei ,,ein historischer Moment für Europa, es ist ein historischer Moment für Italien.“. Worte, die einem schmeicheln und das Selbstbewusstsein der EU stärken, betrachtet man, wie die EU über die vergangenen Jahre langsam wieder an Orientierungssinn, Zielstrebigkeit und Entschlossenheit hinzugewonnen hat. Auf einer internationalen Bühne derart dominant aufzutreten, entgegen der Hauptakteure USA und China, ist ein wichtiger Schritt dafür, die Reputation Europas zu bewahren.

Doch nicht alle Länder sind so glücklich. Die ,,Sparsamen fünf“, darunter Österreich, Dänemark, die Niederlande, Finnland und Schweden haben während der Verhandlungen dauerhaft auf eine Senkung des Zuschussvolumens gedrängt und ihr Plädoyer für eine größere Verteilung über Kredite gehalten. Bekannt ist das Argument überall, geläufig auch in der Bundesrepublik. Man könne nicht die Reformversäumnisse der schlechter gestellten Länder auf dem Rücken der reicheren Mitgliedsstaaten austragen, heißt es. Verständlich und wahr ist diese Argumentation. Viele Probleme in der Wirtschaft sind Nachwirkungen der Finanzkrise 2008/09, Resultat einer nicht adaptierten und damals falsch ausgelegten Arbeitsmarktpolitik, die besonders in den südeuropäischen Staaten die Ökonomie in eine desolate Lage getrieben hat. Fehler und Defizite mit den ,,Corona-Zuschüssen“ auszubessern, die nichts direkt mit der Gesundheitskrise an sich, sondern mit regierungsbedingten Versäumnissen zu tun haben, ist nicht zielführend und nicht das, wozu die 750 Milliarden € dienen sollen. Dieses gewaltige Volumen hat einen anderen Zweck zu erfüllen, nämlich sollen sie, geknüpft an Reformen und gekoppelt an Bedingungen dazu führen, die Länder allgemein wieder in eine Ausgangslage zu versetzen, aus der heraus die Länder wieder in der Staatengemeinschaft eine eigene handlungsfähige Politik betreiben können. Soweit so gut. Doch vor diesem Hintergrund scheinen die ,,Sparsamen fünf“ genau das zu tun, was man im Schatten dieses Maßnahmen-Pakets glaubte, im größten Maße überwunden zu haben: die nationalstaatliche Fokussierung. Die Reduktion der 500 Milliarden Euro Zuschüsse, wie von Merkel und Macron zu Beginn als Geldvolumen für die Zuschüsse gefordert worden waren, auf nun letztlich 390 Milliarden € zeigt eines sehr deutlich, nämlich dass nationalstaatliche Fokussierung und die Idee, man müsse das nationale Steuergeld ,,beschützen“, eu-weit grassiert, als Form der Denke, wie sie vor der Gründung dieser Gemeinschaft, retrospektiv gesehen, lange Zeit existierte. Um die Jahrtausendwende die Einführung des Euros, die Etablierung des Binnenmarktes weitaus früher, waren die ersten und wichtigsten Schritte hin zu einem einheitlichen europäischen Markt. Dadurch sind die Wirtschaften in der EU eng aneinander gekoppelt, mit den großen Playern der Welt werden nicht die Staaten alleine, sondern als EU gemeinsam mit diesen verglichen. Aber diese Zusammenlegung wirtschaftlicher Räume hört anscheinend da auf, wo das gegenseitige Einstehen füreinander beginnt. Wie man die Argumentation gegen mehr Zuschüsse einfach entkräften kann? Ganz simpel. In etlichen Verträgen der EU ist die Konvergenz als einer der obersten Prioritäten eingeschrieben, die Angleichung der Lebensverhältnisse in den einzelnen Staaten. Anti-Zuschüsse ist eine Haltung, die genau das nicht im Blick hat. Gemeinsame Schulden in der EU wären eine deutliche Chance für alle Mitgliedsstaaten, wenn man sie nicht als kollektive Umverteilungsmaßnahmen, sondern als greifbare Chance gelebter Solidarität begreifen würde. Jedes Land würde anteilsmäßig seiner Stärke über die Mitgliedsbeiträge einen Teil dieser Schulden tilgen. Denn Kredite sind den Ländern keine wirkliche Hilfe. Die Rückzahlung der Kredite bedeutet für die Staaten mit großer Betroffenheit, die ihnen zugestandenen Mittel zurückzahlen zu müssen, was wiederrum das staatliche Investitionsvermögen dieser Nationen senkt in ihrem eigenen Land. Weniger Geld in Zukunft für Infrastruktur, et cetera. Länder mit wenig finanziellem Spielraum werden über Kredite in ihrem Handeln weiter eingeengt, was letztendlich die Konvergenz nicht fördert, sondern massiv erschwert. Die Beschleunigung der Konvergenz über Zuschüsse, die die Staaten gemeinsam stemmen, um ihr überregionales Wohl zu unterstützen, kann nur im Sinne eines jeden der 27 Mitgliedsstaaten sein. Länder- und Regierungsverantwortliche, die das abstreiten, sehen nicht den Nutzen in den Zuschüssen, sondern lediglich ihre Steuern als heilig Hab und Gut.

Im Laufe der Zeit wird es in der Union, will sie weiter international anerkannt und handlungsfähig bleiben, auf gemeinsame Schulden hinauslaufen müssen. Die mangelnde Möglichkeit, auf Wirtschaftskrisen durch Inflation der eigenen Währung zu reagieren, die Entmachtung der nationalstaatlichen Banken durch die europäische Zentralbank im Euroraum, als dies und vieles mehr sind direktes Resultat der Währungsunion, die man sich vor rund zwei Jahrzehnten sehnlichst herbeiwünschte. Und das ist auch nicht zu kritisieren, um Gottes Willen, aber gerade dieser Schritt in solch eine Richtung lässt eine wahre gemeinsame Fiskalunion unausweichlich werden, mit gemeinsamen Schulden eingeschlossen. Wer die Möglichkeit zur wirtschaftlichen Regulation von nationaler auf EU-Ebene überträgt, muss sich auch bewusst werden, dass die gleichmäßige nachhaltige Entwicklung aller Staaten dadurch auch nur möglich ist, indem die Fiskalpolitik auf ein Maximum der Gemeinsamkeiten ausgedehnt wird.

Gemeinsame Schulden heißen ja schließlich nicht, dass Geld aus dem Topf der Union in den Ländern beliebig eingesetzt werden kann. Die Nationalstaaten könnten beispielsweise allgemeine Bedingungen und Regelwerke festlegen, wonach die konkrete Verwendung der Gelder grob geregelt wäre. Themen wie Bildung, Digitalisierung, und weitere Determinanten für die Zukunft könnte man ganz oben auf die Agenda setzen. Die Gelder würden somit nicht irgendwie verpuffen, sondern durch sinnigen Einsatz dem Wohlstand aller Europäer zu Gute kommen.  Dass dieses Potential von den ,,Sparsamen Fünf“ verkannt wird, ist traurig. Sie als proeuropäisch zu bezeichnen, indem sie Probleme lieber mit der Verteilung von Lasten auf der nationalen Ebene selbst regeln wollen, ist eher unsolidarisch in einer Union, die sich der Konvergenz verschrieben hat.

Dass unter den aktuellen Bedingungen und den bisherigen Situationen in den Nationalstaaten das Konzept gemeinsamer Schulden eher abgelehnt als gepriesen wird, ist nicht unlogisch. Doch dass 5 Länder der Union Frankreich, Deutschland, Spanien, Italien und vielen weiteren Ländern den noch viel historischeren Schritt hin zu 500 Milliarden € an Zuschüssen austreiben können, zeigt eines ganz deutlich: vielen geht es in der EU leider eben nicht um eine Union, in der jedem der gleiche Wohlstand und die gleichen Möglichkeiten zukommen sollen, von Schweden nach Italien, von Portugal nach Polen, sondern dass der eigene Wohlstand als einziges Prestige in vieler Hinsicht noch gesehen wird, das es zu bewahren gilt. Auch wenn man jetzt die genannten fünf von der Sinnigkeit gemeinsamer Schulden und ihrem langfristigen benefit überzeugt hätte, sie würden diese Argumentation erst gar nicht wahrnehmen. Die Versessenheit, alles regulieren zu können, das ist nicht ein Laster der EU, sondern eines ihrer Mitgliedsstaaten, vor allem ihrer reicheren. Für die EU eingesetzt wird sich nur, wenn dadurch der Geber selbst nicht belastet wird, sondern direkt in naher Zukunft dabei für ihn sogar was herausspringt. Doch sind wir hier nicht bei der lokalen Bank, sondern der EU. Vielleicht sollte man diesen Unterschied mal allen Beteiligten vor Augen führen, die sich rigoros dagegen wehren, ihren Wohlstand zugunsten ihrer Nachbarländer einzusetzen, sofern möglich.

Vielleicht gelingt es ja in naher Zukunft die Staaten weiter zu einen und doch noch eine gemeinsame Fiskalpolitik im weitesten Sinne einzuführen, die nicht nur die direkten Gewinne annimmt, sondern auch bereit ist, kurzfristige Bürden auf sich zu nehmen, um danach als Phönix aus der Asche empor zu steigen. Das beschlossene Finanzpaket sollten wir als Anlass nehmen, an weiterer Supranationalität in diesem Sektor zu arbeiten. Begreifen wir es als unermessliche Chance, die EU weiter leben zu dürfen. Bringen wir die EU aus dem Gerangel nationalstaatlicher Interessen, auch für die internationale Repräsentation unseres Kontinents um den Globus. Höchstwahrscheinlich ist dies mit noch enorm viel Arbeit verbunden, wenn das unser glückliches Ziel werden soll. Doch dann wird aus dem historischen Schritt eine Historie, auf die wir zurückblicken können und die unsere Union stabilisieren wird. Merkel und Macron haben es vorgelebt, nun müssen wir es weiterleben. Fangen wir bei der Einstellung der Sparsamen Fünf an. Vielleicht können sie ja sparsamer auf nationaler Ebene als bei den Zuschüssen werden. Proeuropäisch wäre das allemal.